verzettelt

von Anja Maria Franz-Röhrig

Alles zu viel? Fünf Fragen, die helfen können

„Es ist einfach alles zu viel“. Diesen Satz höre ich sehr oft in meinen Beratungen. Die Tage sind vollgestopft mit beruflichen Aktivitäten und in der Freizeit jagt ein Termin den anderen. Kein Raum für Kreativität, für etwas Sinnvolles oder etwas Neues wie Meditation, Yoga oder Musik. Und schon gar kein Raum für Muße. Wenn die To-do-Listen immer länger werden, fühlt sich irgendwann alles wie Arbeit an, meint der Soziologe Hartmut Rosa. Das Zuviel-Gefühl erschöpft auf Dauer. Neue To-do-Listen, ein noch strafferes Zeitprogramm. Mit Willenskraft ist dem nicht beizukommen. Im Gegenteil. Werden die hochgesteckten Ziele nicht erreicht (was eher die Regel ist, denn das Leben bringt immer Unerwartetes), resignieren wir. Selbstvorwürfe und -zweifel übernehmen das innere Gespräch. Wie aus dem Zirkel der Erschöpfung aussteigen, wenn sich alles um einen herum immer schneller dreht?

Ein Weg: Abstand gewinnen und das widerständige Denken aktivieren.  Folgende fünf Fragen können helfen, um der Erschöpfung zu entgehen:

1. Was ist zuviel?

Eine simple, aber effektive Präzisionsfrage, die dem vagen Gefühl des „Alles zu viel“ auf den Grund geht. Ein Realitätscheck sozusagen.
Gilt das Gefühl z.B. der Arbeit?
Was ist es an der Arbeit, dass für Sie zu viel ist?
Was (ist es) genau?
Die vielen Anordnungen, die vielen Changemanagements, die Teammeetings?
Oder ist es die Hausarbeit, das Familienmanagement, die Pflege der Eltern?

Manchmal ist es die Summe von allem.
Versuchen Sie das Zuviel einzugrenzen mit der immer neu gestellten Frage: Was genau? Graben Sie tiefer.
Die vielen Anrufe der Freunde sind zu viel. Was ist genau daran zu viel?
Die Zahl der Anrufe, die Länge oder die Themen?
Was genau?
Diese Frage bringt Abstand von dem Zuviel-Gefühl: Wir merken, dass die Wahrheit eventuell woanders liegt. Unser Bild der Wirklichkeit wird vollständiger, bunter. Wir können wieder Bereiche erkennen, in denen das Zuviel-Gefühl nicht zutrifft.

2. Was möchte ich jetzt wirklich tun?

Mit dieser Frage spüren Sie Ihrer tieferen Sehnsucht nach. Oft ist das nicht so einfach zu beantworten, weil ja viel Wichtiges im Kalender steht. Aber sie hilft uns, wieder in Kontakt mit uns selbst zu kommen.
Vielleicht ist Ihnen nach einem Spaziergang? Oder einem Filmabend? Vielleicht wollen Sie nur in Ruhe eine Tasse Tee trinken, eine kleine Karte schreiben für den Enkel oder einfach NICHTS TUN.

Wenn die Umstände es erlauben, tun Sie es sofort (was nicht heißen soll, all Ihre Pflichten zu vernachlässigen. Sie stellen sie nur für einen Moment zurück).
Schreiben Sie einfach alles auf, was Ihnen in den SINN kommt, ohne groß zu überlegen, auch Verrücktes.
Sie verschaffen sich so Abstand, eine kleine Pause und hören auf das, was aus Ihrem Innern kommt. Damit füllen Sie die inneren Speicher etwas auf, tanken Kraft und gewinnen einen frischen Blick auf sich und Ihre Situation.

 

3. Was würde ich meiner besten Freundin bzw. meinem besten Freund in dieser Situation raten?

Eine sogenannte zirkuläre Frage aus dem systemischen Denken.
Was würde ein anderer an meiner Stelle tun?
Mit dieser Frage wechseln Sie die Perspektive und gewinnen Distanz zur gegenwärtigen Situation.
Sie können noch einen Schritt weiter gehen. Statt des Freundes, stellen Sie sich vor, sie seine eine Fliege an Ihrer Wand (ja, Sie haben richtig gelesen).

Fliege an der Wand
Beschreiben Sie in der dritten Person, was diese Fliege wahrnimmt, etwa so: „Agnes hetzt von einem Termin zum nächsten“ oder: „Robert schaut dauernd auf sein Handy während er seinen Sohn betreut“ oder: „Elke isst zu viel und hastig, sobald sie nach Hause kommt.
Wer hier über sich selbst lachen kann, der ist auf einem guten Weg!
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass diese „fly -on-the-wall“-Perspektive unser inneres Selbstgespräch verbessert und uns klarer denken und entscheiden lässt.
Aber: Denken Sie nicht einfach nur über die Fragestellung nach, sondern schreiben Sie Ihre Gedanken ganz konkret auf. So haben Sie deutlich mehr davon.

 

4. Welche Regeln könnte ich für mich und/oder gemeinsam mit meiner Familie aufstellen, die uns mehr Zeit für Muße lassen?

Regeln sind wichtige Orientierungen im Zusammenleben. Einmal festgelegt, erleichtern sie uns das Leben, denn wir müssen nicht jeden Tag neu entscheiden, was und wie etwas gehandhabt werden solSie sich morgens die Zähne putzen sollen? Wahrscheinlich nicht.
Wir machen es einfach. Denn wir wissen, dass wir unsere Zähne damit langfristig gesund erhalten. Doch hat es ein paar Jahrhunderte gedauert, bis sich diese Hygienemaßnahme allgemein durchsetzen konnte.

Regeln schonen unsere Willenskraft
Eine Regel müssen wir nicht hinterfragen oder immer wieder neu festlegen. Uns bleibt also genug Energie für andere Entscheidungen am Tag.
Überlegen Sie einmal gemeinsam mit Partner und/oder Kindern, welche Regel in Ihrem Zusammenleben neu formuliert werden könnte: „Hausaufgaben bis 17 Uhr erledigt“ oder „Kein Handy beim Essen“ oder: „Sonntagmorgen decken die Kinder den Tisch (etc.)“
Dazu noch ein Lesetipp: Lorraine Daston. Regeln. Suhrkamp Verlag 2023. (auf der Sachbuchbestenliste der „ZEIT“ im Dezember)

5. Wo ist mein Leben schön?

Das ist die existentiellste der fünf Fragen. Sie erinnert an einen essentiellen Wert: die Schönheit.
Die Schönheit wird die Welt retten“, wusste Fjodor Dostojewski.
Was ist schön an meinem Leben?
Besinnen Sie sich, meditieren Sie darüber und notieren Sie Ihre Einfälle dazu. Gern über mehrere Tage oder Wochen.
So gewinnen Sie mit der Zeit einen anderen Blick auf Ihr Leben.

Wenn wir uns auf das Schöne konzentrieren, heißt das nicht, wegzuschauen vom weniger Guten, sondern vielmehr das Unschöne anzunehmen (zumindest für den Moment) als das, was es ist.
Denn das Wort schön kommt von schauen und von schonen.
Das liebevolle Schauen aufs eigene Leben ist ein gutes Mittel, um dem „Mir-ist-alles-zu viel“ -Gefühl und der Erschöpfung entgegenzuwirken.
Dankbarkeit, einer unserer klarsten Quellen für Freude, macht sich so breit in uns. Wärmt unseren Körper von innen und befriedet den Blick.

Wenn Sie sich den obigen Fragen ernsthaft stellen, ist das „Alles zu viel-Gefühl“ nicht gleich verschwunden. Doch allmählich, bei steter Bewusstmachung, wächst Ihre mentale Widerstandskraft.
Sie finden problemlos die richtigen Worte bei Ihrer Gegenrede, sprechen ür mehr Klartext und setzen bewusster Ihre Grenzen. So wächst aus dem Zuviel-Gefühl ganz langsam die Motivation das Leben in Balance zu bringen. Und auf einmal finden Sie wieder das richtige Maß zwischen Tätigsein und Muße.

Beitragsbild: Foto von Patrick Perkins auf Unsplash