Präsenz

von Anja Maria Franz-Röhrig

Präsenz - warum wir sie gerade in Krisenzeiten so sehr brauchen.

Gerade in Krisenzeiten neigen wir dazu, schnell den Überblick zu verlieren. Die Stressforschung kennt das Phänomen. Wir entwickeln dann den berühmten Tunnelblick, sehen weder rechts noch links. Stattdessen sehen wir nur noch einen winzigen Ausschnitt unserer Wirklichkeit: etwa Corona und die Folgen.

Dabei tut es gerade jetzt not, den Blick auf das große Ganze zu richten und den Weitblick zu behalten. Im Volksmund nennt man das auch, einen kühlen Kopf bewahren. Goethe nannte es Geistesgegenwart. Ein schönes altmodisches Wort und sehr treffend. Heute sprechen wir lieber von Präsenz.

 

Präsenz – der Schlüssel für ein gutes Leben?
Doch was ist das eigentlich genau, Präsenz? Ganz da sein, im Hier und Jetzt sein? Atmen? Eine höhere Form des Bewusstseins? Diese Umschreibungen klingen mir zu vage und stammen eher dem Repertoire der Achtsamkeits- und Wellnessindustrie.

Vielleicht kommen wir der Sache näher, wenn wir uns fragen, wann spüren wir Präsenz?
Wir wissen nämlich ziemlich genau, wie es sich anfühlt, wenn Menschen um uns herum präsent sind. Ein Lehrer, der präsent ist, hat die Aufmerksamkeit seiner ganzen Klasse. Ein geistesgegenwärtiger Chef hat das volle Engagement seiner Mitarbeiter – auch in Krisenzeiten. Wir spüren Präsenz und sie verändert uns und unser Umfeld.

Präsente Menschen sprechen klar und handeln besonnen. Sie agieren aus einer großen Ruhe heraus. Sie sind im Kontakt mit sich selbst. Ihre Aufmerksamkeit ist weit gestellt, so können Sie ganz bei den anderen sein und gleichzeitig bei sich.

Ich möchte diesen Zustand des in Kontaktseins mit sich selbst, eher mit einer tiefen Konzentration vergleichen. Einer Konzentration, die sich ohne Anstrengung einstellt, die sich aus dem nach Innen-Schauen speist und uns mit einem klareren Blick auf die Welt beschenkt.

Zugänge für mehr Präsenz
Für den einen genügt ein längerer Spaziergang. Und schon weicht die anfängliche Aufgewühltheit einer größeren Klarheit. Ein anderer meditiert lieber, schreibt, malt oder liest ein Gedicht. Es gibt so viele Zugänge zur Präsenz wie Menschen. Doch damit allein lässt sich noch keine Präsenz herstellen und im Alltag halten. Es sind lediglich Zugänge für mehr Präsenz.
Um Präsenz zu einer stabilen Haltung zu entwickeln, bedarf es der stetigen und systematischen Übung. Die Meditationslehren aus West und Ost halten viele Übungen und Weisheiten bereit, die uns helfen, immer besser im Kontakt mit uns selbst zu sein.
Lesen Sie mehr in meinem Sinn-Impuls

 

3 einfache Übungen für mehr Präsenz

Die folgenden drei Übungen sind gut für Anfänger, um Präsenz langsam in sich wachsen zu lassen. Sie eignen sich ebenfalls für geübte Meditierende, da sie extrem einfach (dennoch nicht leicht) sind und jederzeit den Zustand der Präsenz nachhaltig kultivieren:

1. Übung: In Stille sein

Beginnen Sie mit einer 5 Minuten-Meditation, am besten am Morgen. Legen Sie das Smartphone weit weg und verzichten bewusst auf den Einsatz von Meditations-Apps. Setzen Sie sich stattdessen einfach gerade hin und erlauben sich 5 Minuten (Anfänger können mit einer Minute starten) in denen Sie nichts tun, nur still werden und nach innen lauschen. 

Sie brauchen keine Gedanken abschalten oder den Atem beobachten, nur die Stille hinter den Gedankenlärm wahrnehmen. Wer mag, kann dabei die Augen schließen.

Der Effekt der Übung
Diese kurze Übung erlaubt es Ihnen, den gesamten Tag bewusster zu erleben. Sie können besser agieren und spüren rechtzeitiger die Notwendigkeit von Pausen. Ein wirksames Antistressmittel für den Alltag. Probieren Sie es einfach aus.

2. Innehalten – sich selbst beobachten
Diese Übung stammt aus der Achtsamkeitspraxis des Jon Kabat-Zinn, Begründer des MBSR (Mindful Based Stress Reduction), die in vielen Rehabilitationszentren und Kliniken weltweit angewandt wird.

Halten Sie mehrmals im Laufe des Tages kurz inne, um Verbindung mit sich aufzunehmen.
Sie können dabei die Augen schließen und zu Beginn die Aufmerksamkeit auf den Atem lenken.

Dann spüren Sie in Ihren Körper hinein.
Gibt es irgendwo Verspannungen, atmen Sie flach? Was nehmen Sie körperlich wahr?
Nehmen Sie nur wahr, was ist.

Welche Gefühle zeigen sich?
Fühlen Sie sich verärgert oder irritiert?
Nehmen Sie auch diese nur wahr, ohne sie zu bewerten.

Dann fragen Sie sich: Was für Gedanken sind gerade da?
Dann nehmen sie auch diese wahr, ohne es zu bewerten.

 

Lenken Sie wieder die Aufmerksamkeit sanft auf Ihren Atem und kommen dann mit der Aufmerksamkeit wieder in Ihren Alltag zurück.
Mit der Zeit und durch Übung brauchen Sie nur noch wenige Sekunden für die Besinnung auf das, was gerade ist.

Der Effekt der Übung
Mehr innere Klarheit, weniger Müdigkeit, besseres strategisches Denken, weniger Hektik. Langfristig erhöht sich die Konzentration und Sie sind wacher.

3. Automatisches Schreiben

Das automatische Schreiben ist eine besondere Form des literarischen Schreibens. Berühmt vor allem durch die Anwendung als „écriture automatique“ der Künstlergruppe der Surrealisten um André Breton im Paris der 20er Jahre.
Die Methode, ähnlich den Morning Pages von Julia Cameron, ist denkbar einfach: Sie lassen Ihren Gedankenfluss vom Schreiben lenken. Sie notieren, ohne zu überlegen, alle Gefühle, Gedanken, und Ideen unverfälscht auf.

Die Wirkung der „écriture automatique“ ist vielfältig: Sie gewinnen
mehr Fokus, mehr Orientierung. Sie erhalten möglicherweise Zugang zu unbewussten oder verdrängten Inhalten Ihrer Seele, auch können sich dadurch unverhofft Lösungen für Probleme einstellen.
Nicht zuletzt setzt das automatische Schreiben vor allem jede Menge Endorphine frei, denn Sie geraten schon nach kurzer Zeit in eine Art Flow, der Ihre kreative Quelle nur so zum Sprudeln bringt.

Folgendes ist beim automatischen Schreiben zu beachten:

  • Grammatik, Orthographie oder Rechtschreibung spielen keine Rolle.
  • Nichts muss logisch aufgebaut werden.
  • Schreiben Sie schnell.
  • Machen Sie keine Pausen. Zur Not reihen Sie einfach den letzten Buchstaben aneinander oder das letzte Wort, aber bleiben Sie im Schreibfluss.

André Breton beschrieb diese Art des Schreibens als „Denkdiktat ohne jede Kontrolle der Vernunft“. Es ist auch ein gutes Mittel die Stimme des inneren Kritikers auszuschalten.

 

Interesse an Persönlichkeitsentwicklung durch Schreiben? Dann lesen Sie auch: „Journaling für Führungskräfte“.